STALAG VI A
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8. März 2000

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    Dr.H. Fritsch


9. Kriegsgefangene und Lagerpersonal Kriegsgefangene und Bevölkerung - Kriegsgefangenenpost

Das Lagerpersonal und sein Verhältnis zu den Gefangenen

Das umfangreiche Personal des Stalag VI A gliederte sich in die Stabskompanie einschließlich der Zivilangestellten (556 Personen) als eigentliche Verwaltung des Lagers, die Bauverwaltung und das jeweilige Landesschützenbataillon (150 Soldaten) als Wachpersonal. Hinzu kamen noch einige dienstverpflichtete Zivilpersonen, die als Hilfsmannschaft eingesetzt waren. Kommandanten des Lagers waren im Alter weit vorgerückte Offiziere. Das Sanitätspersonal im Lager bestand am 1. Januar 1943 bei etwa 7000 Gefangenen direkt im Stammlager nur aus 28 Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften.
Da das Hemeraner Stalag 1943 zum Kranken- und Sterbelager geworden war, war das Sanitätspersonal zahlenmäßig weitaus zu gering, um qualifiziert Hilfe leisten zu können. Die Behandlung der Kriegsgefangenen durch das Wachpersonal war im großen und ganzen abhängig von der Nationalität der Gefangenen und von der Kriegs- bzw. Wirtschaftslage des Deutschen Reiches. Es war aber auch individuell vom Charakter und der Stellung des jeweiligen Soldaten oder Zivilangestellten geprägt. Daher sollen einzelne belegbare „Fälle“ zu einer differenzierteren Betrachtung beitragen.
Die Verpflegung im Lager, Unterkunft und Bekleidung waren schlecht und unzureichend. Dennoch gab es Soldaten und Zivilisten, die sich an dem wenigen, was den Gefangenen zugeteilt wurde, noch bereicherten. Frau Holtzwart, die in der Verwaltung des Lagers tätig war und deren Mann als Oberzahlmeister angestellt war, berichtet: „Besonders häufig kam es auch vor, daß sich Soldaten und Zivilisten an Brot und anderen Lebensmitteln bereichert haben. Die Lebensmittel waren noch nicht im Lager, und schon fehlte ein erheblicher Teil der Lieferung. Durch das öftere Umladen von der Bahn auf LKWs hatte man immer wieder Möglichkeiten, etwas gewissenlos abzuzweigen. Diese gestohlenen oder verdorbenen Lebensmittel fehlten im Stalag und schmälerten immer mehr die schon knapp bemessenen Rationen.“
Aus der großen Lagerküche wurden in regelmäßigen Abständen mit Billigung des militärischen Küchenpersonals Fleisch, Fett und Brot verschoben. Waggonladungen verschimmelten Brotes kamen am Bahnhof Hemer an. Ersatzlieferungen waren ausgeschlosen; so wurde das verschimmelte Brot an die Gefangenen ausgegeben. Damit schnell geliefert werden konnte, wurde das Brot von der Fabrik feucht-warm zum Versand gebracht. Militärtransporte oder Bombenangriffe sorgten dafür, daß die Brotlieferungen stark verspätet eintrafen und verschimmelt waren. Bei den Kartoffeln und Steckrüben, die im Herbst in großen Mengen zur Einmietung geliefert wurden, gab es ebenfalls Ausfälle.
Bei der Essensausgabe ereigneten sich oft schreckliche Szenen. Karl Nensel, als Handwerker im Stalag dienstverpflichtet, erinnert sich:
“An der großen Lagerküche gab es viele Schalter, an denen die einzelnen Kompanien ....Essen fassen mußten. Hinter den Schaltern standen gefüllte Behälter mit Suppe zur Ausgabe bereit. Es kam öfters vor, daß trotz russischer Lagerpolizei, die aus ca. 30 Personen bestand, die hungernden Menschen schnell an die geöffneten Schalter liefen, um mit ihren Eßgeschirren aus einem der gefüllten Behälter sich ein zweite Portion zu holen. Durch schnelles Weglaufen entzog man sich der Verfolgung durch die Lagerpolizei oder des deutschen Küchenpersonals. Ich habe an einem Tag miterlebt, wie wieder ein sowjetrussischer Kriegsgefangener versuchte, auf diese Art eine doppelte Portion Suppe zu bekommen. Er wollte weglaufen, wurde aber von einem Soldaten des Küchenpersonals gestellt. Dieser schlug dem Gefangenen mit einem dicken Knüppel, den man Ochsenziemer nannte und der in der Küche für diese Zwecke bereitgehalten wurde, auf den Kopf. Der Russe fiel zu Boden, er rührte sich nicht mehr, das Blut quoll ihm aus Mund, Nase und Ohren ...“.
Zu der schlechten Ernährung kamen die Repressalien einzelner Wachmannschaften hinzu, die bei Zählappellen, Razzien und beim Essenfassen an den wehrlosen Menschen verübt wurden. Militärisches Lagerpersonal schreckte vor Quälereien und vereinzelten Morden an den Gefangenen nicht zurück. Nikolai Gubarew berichtet: „Ich hatte im Block 6 zu tun, plötzlich fiel ein Schuß. Ein sowjetischer Gefangener, der sich an den Mülltonnen des Franzosenlagers zu schaffen machte, brach tot zusammen. Der Wachposten am Tor zum Vorlager hatte diesen Menschen kaltblütig erschossen. Danach schleppten zwei Russen, die zur Hilfe geeilt waren, diesen Toten weg.“ Karl Nensel erzählt auch von einem anderen schrecklichen Erlebnis: „ Durch laute Schreie im Keller von Block 8 aufgeschreckt, suchte ich nach dem Grund dieser Hilferufe. Plötzlich stand ich in einem Kellerraum, in dem ein Holzgestell aufgebaut war, darauf eine entkleidete, halb verhungerte Gestalt - ein sowjetrussischer Kriegsgefangener. Zwei Mitgefangene mußen diesen Menschen festhalten, und zwei weitere schlugen mit Lederriemen auf diese erbarmungswürdige Gestalt ein, die nach 20 von einem deutschen Unteroffizier gezählten Hieben zusammenbrach. Dieser Soldat brüllte mich an und befahl mir, sofort den Raum zu verlassen. Nachdem ich ihm wegen seines Tuns Vorhaltungen gemacht hatte, brüllte er noch lauter. Er sagte, daß ich mich für mein Verhalten zu verantworten habe. ‘Diese Schweine erhalten ihre gerechte Strafe, wenn sie Brot oder andere Dinge im Lager stehlen’, so die Worte des Peinigers.“
Es gab im Lager aber auch zahlreiche Menschen, die den Gefangenen hier ein Stück Brot, dort eine Zigarette zusteckten. Das waren Dinge, die im geheimen getan werden mußten, da sie unter schwerer Strafe standen. Während manche von der Kommandantur oder dem Wachpersonal die Gefangenen rücksichtslos behandelten, gab es andere, die sie anständig behandelten oder sich bei den Vorgesetzten für einen humanen Umgang einsetzten. Nicht nur bei einigen Offizieren des Stabes kam es angesichts des Leidens, besonders der russischen und italienischen Gefangenen, zu Mitleid, sondern auch bei den zivilen Verwaltungsangestellten.
Margret Holtzwart überliefert: „Ich arbeitete in der Kommandantur des Lagers. Eine Gruppe von sowjetrussischen Kriegsgefangenen war täglich damit beschäftigt, den für die Heizungsanlage des Lagers angefahrenen Koks vor unserem Fenster abzuladen. Der Koks lag so hoch, daß er bis an unser Fenster reichte. Die hungrigen koksschippenden Russen taten uns leid, und wir Frauen zweigten etwas von unserem Butterbrot ab, wickelten es in zerknülltes Zeitungspapier - denn es durfte nicht nach Absicht aussehen - und legten es auf die Fensterbank. Schon hatten die Gefangenen dies beobachtet, und im Nu waren die Schnitten weg. Wir brachten daraufhin Brotreste von zu Hause mit, und sie gingen alle den gleichen Weg. An einem Morgen lag ein Päckchen auf der Fensterbank, aber dieses Mal von außen dort abgelegt. Beim Öffnen des Zeitungspapiers sahen wir, daß die Gefangenen uns als Zeichen der Dankbarkeit ein wenig Machorka eingewickelt hatten. Sie wollten nicht nur nehmen, sondern auch dankbar sein.“
In ihrer unerträglichen Lebenssituation im Lager waren die sowjetischen Kriegsgefangenen auf jede zusätzliche Versorgung mit Lebensmitteln oder Medikamenten angewiesen. Dank ihrer Geschicklichkeit konnten einige ihr Los durch die Herstellung von kleinen Gebrauchsgegenständen, Dekorationsstücken und Spielzeugen ein wenig verbessern. Diese mit einfachsten Werkzeugen und großer Fingerfertigkeit zumeist aus Holz gefertigten Gegenstände tauschten die Gefangenen an ihren Arbeitsstellen oder beim Lagerpersonal gegen Lebensmittel. Manchmal verschenkten die Gefangenen selbstgefertigte Dinge zum Dank für heimlich zugesteckte Lebensmittel und andere Zuwendungen. Nach fünf Jahrzehnten ist nur noch wenig erhalten geblieben und hat heute bei den Besitzern einen besonderen Wert, wie z. B. das im Gedenkraum ausgestellte Rasierkästchen und eine Schatulle aus geflochtenem Stroh.
Künstlerisch begabte russische Gefangene fertigten im Auftrag von Angehörigen der Kommandantur oder des Wachpersonals Bleistift- oder Pastellzeichnungen, manchmal Aquarelle, selten Ölgemälde an. Meist dienten Fotos von Frauen, Freundinnen oder Kindern der Auftraggeber als Vorlage. Selbst gewählte Motive der Künstler waren Blumen, heimische Landschaften sowie Szenen aus russischen Sagen und Märchen, die die Sehnsüchte der Gefangenen widerspiegelten.

Das Verhältnis der Zivilbevölkerung zu den Gefangenen

Kriegsgefangene waren für den Großteil der Bürger in Hemer zu einem alltäglichen Bild geworden. Wenn es keine Massentransporte waren, so gab es doch stündlich kleine Kommandos, die das Lager verließen oder größtenteils als Kranke von den Arbeitskommandos wieder eingeliefert wurden.
Viele Hemeraner sahen sicherlich die Not und das Leid der armen Menschen und halfen auch gelegentlich, obwohl es streng verboten war, Kriegsgefangenen Hilfe zukommen zu lassen. Der Großteil der Hemeraner verhielt sich jedoch passiv und nahm die Gefangenen auf der Straße nur zur Kenntnis. Bei vielen hatte die ständige NS-Propaganda gewirkt, und sie betrachteten die Gefangeneals besiegte Feinde, die eine gerechte Bestrafung erhielten und denen keine Menschenwürde mehr zustand. Aus dieser Haltung heraus kam es manchmal zu Steinwürfen, Ausspucken und Schmährufen.
Am Arbeitsplatz in den Betrieben und in der Landwirtschaft hatte man mehr Berührungspunkte und lernte den einzelnen Menschen näher kennen. Hier wurde manchem Kriegsgefangenen ein Butterbrot zugesteckt, aber nur so, daß es die eigenen Kollegen im Betrieb, die der Nazi-Ideologie anhingen, nicht bemerkten, denn jeder war in Gefahr, denunziert zu werden. Wollte man die kleinen Hilfen aufzählen, so müßte man doch von einer vorhandenen, aber versteckten Hilfsbereitschaft der Hemeraner Bürger sprechen. 1944/45 wurde es noch gefährlicher, den Gefangenen heimlich etwas zuzustecken. Eine Zeitzeugin berichtet: „Als man kurz vor Kriegsende merkte, daß die Amerikaner nicht mehr weit waren, wurde strengstens untersagt, den Russen etwas zuzustecken. Niemand auf Hemers Straßen hätte gewagt, den Russen Brot zu geben, denn niemand war vor seinen Mitbürgern sicher, die hätten einen selbst an den Galgen gebracht.“ Übereifrige Bürger, besonders Parteigenossen, denunzierten nämlich manchmal wegen Lappalien Mitbürger, die Kriegsgefangenen entgegen den Vorschriften halfen.

Die Überwachung des Postverkehrs der Gefangenen

Für die meisten Gefangenen waren Postkarten und Briefe die einzige Möglichkeit, ihren Angehörigen Nachricht über ihr Leben und ihren Gesundheitszustand zu übermitteln, und für die Verwandten wiederum der einzige Weg, über Ereignisse in Familie und Haus zu informieren. Der Postverkehr war die Lebensader vom Lager zur Heimat. Obwohl das OKW Paketsendungen befürwortete und Postsendungen international geregelt waren, erschwerten die Angst vor Spionage, bürokratische Vorschriften und im Fall der Russen auch der Haß auf die Bolschewisten den Postverkehr bzw. unterbanden ihn. Die Westgefangenen machten vom Recht des Postverkehrs ausgiebig Gebrauch und erhielten - besonders aus Frankreich - Päckchen und Pakete, die ihre Verpflegung erheblich aufbesserten.
Die polnischen Gefangenen waren anfangs benachteiligt, da für sie der Postverkehr wesentlich strenger reglementiert war. Im Stalag VI A zeigte sich jedoch zunehmend, daß die polnischen Kriegsgefangenen wie Westgefangene behandelt wurden. Die sowjetischen Kriegsgefangenen durften keine Briefe schreiben oder erhalten, bekamen auch keine Päckchen oder Pakete, so daß sie ihre ohnehin schlechte Ernährungslage nicht aufbessern konnten.