STALAG VI A
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Hemer
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STALAG VI a
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8. März 2000

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    Dr.H. Fritsch


8. Das Leben im Stalag VI A in Berichten zweier ehemaliger Kriegsgefangener

Über das tägliche Leben im Lager Hemer liegen zwei zusammenhängende Berichte vor. Der erste stammt von einem Franzosen und behandelt die Zeit von Mitte 1940 bis Ende 1943, der zweite von einem Russen betrifft den Zeitabschnitt 1942 bis April 1945.
Anfang 1994 hat Jacques Pavillier seine Erinnerungen an die Zeit im Stalag niedergeschrieben. Diese Aufzeichnungen werden leicht gekürzt wiedergegeben.

Bericht von J. Pavillier

„Gefangengenommen an der Einbruchsstelle in der Verteidigungslinie von Dünkirchen am 3o. Mai 1940; Sanitäter in der Divisionssanitätergruppe der 25. motorisierten Infanteriedivision.
Ich kam zunächst über Belgien am l0. Juli nach Hemer in das Stalag VI A. Wir wurden von der Hitlerjugend empfangen. Sie warfen mit Steinen nach uns und spuckten uns an. Dabei schrien sie: `Frankreich kaputt!' Wir waren zutiefst in unserer Würde verletzt.
Nach der üblichen, Angst einflößenden Durchsuchung wurde ich als Nr. 35329 VI A registriert. Ebenso erging es meinen Kameraden. Wir wurden in den Zelten eingepfercht, Tag und Nacht von allen Seiten von Wachposten überwacht. Es war nicht einmal möglich, abends hinauszugehen, um zu urinieren. Wir benutzten Konservendosen.
Viele Gefangene wurden von den Wachen verletzt, die ohne Vorwarnung auf uns schossen. Es gab nur einen einzigen Wasserhahn für vier Zelte (ungefähr 250 bis 300 Männer). Und es war sehr heiß im Juli und August 1940.
Von September bis Dezember 1940 arbeitete ich in Iserlohn und Hemer. Jeden Morgen wurden wir von einem Wachposten und dem Bauleiter im Lager abgeholt.
Jeden Tag Wecken um fünf Uhr - bei jedem Wetter Appell um sechs Uhr im Freien, Rückkehr ins Lager gegen zwölf Uhr und Rückkehr auf die Baustelle gegen vierzehn Uhr. Viele brachen beim Warten auf die dürftigen Mahlzeiten zusammen. Nach der Mahlzeit (ein Topf Steckrüben und ungeschälte Kartoffeln) ein kleines Stück Brot mit einer noch kleineren Ration Blutwurst und ein bißchen Melasse (ein Zuckerabfallprodukt), das war die tägliche Mahlzeit. Wir hatten einen Zivilisten als Bauleiter. Er war sehr verständnisvoll und konnte uns aus der Stadt mit Hilfe von Lebensmittelmarken ein wenig Brot beschaffen. Viele Kameraden bekamen Lebensmittelmarken für ein wenig Brot, indem sie ihren Ehering oder ihre Uhr verkauften. Im Winter 1940/41 wurde ich mit drei Kameraden dazu eingeteilt, während des Winters die Straßen mit Salz und Sand zu streuen. Wir waren auf einem Lastwagen und verteilten den Sand und das Salz mit einer Schippe. Anfang März 1941 wurde ich als Sanitäter in das Kommando von Hagen-Haspe in ein Rüstungsunternehmen geschickt. Es gab ungefähr 150 Gefangene. Aber wir mußten in der Fabrik arbeiten wie die anderen. Da man mich nicht als Sanitäter im Lager einsetzte, weigerte ich mich, in die Fabrik zu gehen. Einige Tage später schickte man mich zurück ins Lager nach Hemer.
Dann war ich in Block 8, wo alle Sanitäter ausgesucht wurden, die nach Frankreich zurückgeführt werden sollten. Nach einem Appell für die Abfahrt mit dem Zug in Richtung Frankreich fand in Dortmund eine erneute Kontrolle statt, und viele Sanitäter sind in das Hemeraner Lager zurückgekehrt. Es gab zu viele Sanitäter. Viele waren in Wirklichkeit keine Sanitäter. Sie hatten die Stempel auf ihren Wehrpässen gefälscht. Ich blieb im Lager für verschiedene Arbeiten und die Pflege der Kranken. Im Dezember 1941 schickte man mich als Sanitäter ins Kommando Nr. 92 in der Nähe von Soest, wo es ungefähr 60 Gefangene gab, die auf den Gleisen arbeiteten.
Im Winter 1941/42 wurde auch ich krank. Man transportierte mich ins Krankenhaus von Soest. Ich blieb dort etwa drei Wochen. Ich kehrte ins Stalag nach Hemer zurück. Ab April 1942 wurde ich im Krankenrevier eingesetzt, um die Kranken mit ansteckenden Krankheiten in einer Baracke zu pflegen (Tuberkulosekranke, an Diphtherie und an der Ruhr Erkrankte etc.) - etwa 15 Kranke. Im Laufe des Sommers 1942 kamen viele russische Gefangene, sogar Frauen, alle in einem bedauernswerten Zustand, wahre Skelette. Für sie gab es keine Hilfe durch das Rote Kreuz. Viele starben vor Hunger. Wir bekamen Päckchen vom Roten Kreuz und jede Woche Kriegskekse zugeteilt. Das hat uns vor dem Hungern bewahrt.
In den Baracken gab es schrecklich viele Flöhe. Man unterzog uns oft einer Desinfektion. Doch kehrten wir danach leider auf unsere mit Flöhen verseuchten Strohmatten und Betten zurück. Einige töteten wir, indem wir sie mit den Fingernägeln knackten. Wollkleidung haben wir nach draußen gehängt, um diese unverwüstlichen Flöhe erfrieren zu lassen. Einige Kameraden arbeiteten täglich in der Kommandantur. Sie machten uns den Vorschlag, die Flöhe nicht zu töten, sondern sie in Schachteln aufzubewahren und ihnen zu geben. So wurden die Flöhe überall dort verteilt, wo unsere Kameraden arbeiteten. Das war sehr wirksam. Denn einige Tage später fand erneut eine Desinfektion statt, aber diesmal wurde das ganze Stroh der Blocks oder der Betten verbrannt. Die Vorgesetzten hatten endlich begriffen, und es gab keine Flöhe mehr im Lager.
Ab Ende 1942 brach eine Typhusepidemie aus. Ich meldete mich damals freiwillig, die Typhuskranken und die anderen ansteckenden Kranken zu pflegen. Ich wurde dann gegen Typhus geimpft. In Block 5 waren ungefähr 40 Kranke, 20 Russen, 15 Polen und 5 Franzosen. Mit mir arbeitete ein polnischer Arzt, auch ein Freiwilliger, der bei einem Bombenangriff in Warschau seine ganze Familie verloren hatte. Außer etwas Aspirin gab es keine Medikamente. Wir mußten den Kranken viel zu trinken geben. Wir brauchten heiße Getränke. Mit demontierten Betten, die ich verbrannt habe, gelang es mir, heiße Getränke herzustellen: Kaffee-Ersatz, Schwarzen Tee, Lindenblütentee und Milch, die der Vertrauensmann mir über den Drahtzaun reichte. Das Ganze kam vom Roten Kreuz zusammen mit den Kriegskeksen. Ein russischer Trupp brachte uns jeden Tag einen großen Topf mit abscheulicher Suppe aus ungeschälten Kartoffeln und Steckrüben. Die Kranken konnten kaum etwas essen. Sie hatten vor allem Durst.
Jeden Morgen kam ein Pferdewagen vorbei, um die Toten mitzunehmen, falls es welche gab. Diejenigen, die starben, vor allem Russen, brachte ich in einen anderen Raum, wo ich sie mit gebranntem Kalk bestreute und sie in spezielles Papier wickelte. Das dauerte bis April / Mai 1943. Dann kam ich wieder ins Krankenrevier des Lagers. Aber Ende 1943 wurden viele Gefangene in das Stalag VI C in Bathorn und von dort in das Lager von Groß-Hesepe gebracht. Darunter war auch ich .....".

Das Leben im Stalag VI A im Bericht eines ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen

Über die Lebensumstände der Gefangenen im Stalag VI A von Juli 1942 bis April 1945 wissen wir gut Bescheid durch die Erinnerungen von Dr. Nikolai Gubarew, der als damals 20-jähriger sowjetrussischer Kriegsgefangener 1942 von Hattingen nach Hemer verlegt wurde. Auf Grund seiner Funktion im Lager - er war Gehilfe des für den Luftschutz zuständigen Hauptmanns Weller - hatte er Einblick in fast alle Abteilungen des Stalag. Daher sollen seine Erinnerungen auszugsweise und unkommentiert zu Wort kommen.
„Lager Hemer: bekannt und gefürchtet
Das Lager Hemer war bei den sowjetischen Gefangenen bekannt und gefürchtet. In dieses große Lager kam ich nun.
Verpflegung der Gefangenen
Brot war für alle Gefangenen gleichbedeutend mit Leben. Um das Essen kreisten alle Gespräche. Deshalb beginne ich meine Erinnerungen mit diesem Stichwort. Ich zitiere dazu ... meinen Kameraden Aslanow: `zum Frühstück eine Kanne trübe Flüssigkeit, die man Ersatzkaffee nannte, zu Mittag ein Schlag Rübenbrühe aus Steckrüben mit ungeschälten Kartoffeln, gelegentlich mit etwas Margarine zubereitet. Die tägliche Brotration betrug 250 g, also eine Tagesration für einen langsamen Hungertod. Dazu gab es manchmal eine Scheibe Wurst oder Kunsthonig.´ Aslanows Schilderung der Gefangenenkost trifft auch auf das Lager Hemer zu. Sowjetische Gefangene waren hinsichtlich der Verpflegung im Gegensatz zu allen anderen Gefangenen stets am schlechtesten gestellt, da sie keine Pakete mit Lebensmitteln und anderen Bedarfsgegenständen vom Internationalen Roten Kreuz in Genf und anderen westeuropäischen Ländern erhielten. Bekanntlich war die Regierung meines Landes nicht dem Internationalen Roten Kreuz beigetreten. Das wirkte sich auf das Schicksal der Gefangenen sehr nachträglich aus.
Bekleidung
Als Bekleidung hat man uns alte Uniformen verschiedener Armeen gegeben. Sie waren mit weißer Phosphorfarbe markiert, damit man uns auch nachts identifizieren konnte. Statt Schuhen bekamen wir Holzpantinen, an denen sich die Füße wundrieben. Die schwere Arbeit und die schlechte Ernährung führten dazu, daß die Kriegsgefangenen körperlich und moralisch sehr litten. Zum Ausbessern und zur Reinigung der Bekleidung standen Lagerhandwerker zur Verfügung. Die Bekleidung wurde regelmäßig entlaust, so daß wir im Lager von Läusen verschont blieben.
Unterbringung
Sie erfolgte in z.T. mehrstöckigen Steinhäusern, die zentral geheizt wurden. Im Lager befanden sich außerdem mehr als 10 Holzbaracken. Sie bildeten das sogenannte Vorlager, das zur Aufnahme neuer Gefangener diente. Die Tbc-Station war auch in Holzbaracken untergebracht. Sie wurden mit Öfen beheizt und waren kälter als die Steinhäuser. Die Fußböden in allen Häusern bestanden aus Beton.Die Steinhäuser verfügten über Toiletten und Waschräume. Geschlafen wurde in dreistöckigen Holzbetten. Neu eingelieferte Gefangene mußten unter dem Dach auf dem bloßen Betonboden schlafen. Im Gegensatz zu den Gefangenen anderer Nationen im Lager erhielten die sowjetischen Gefangenen keine Decken zum Schlafen. Wenn ihre Kleidung beim Arbeitseinsatz im Freien naß geworden war, mußten sie sich mit der nassen Kleidung schlafenlegen. Erkältungskrankheiten und sogar Lungenentzündungen waren oft die Folge. Lediglich die zum Lagerpersonal gehörenden sowjetischen Gefangenen erhielten eine Decke.
Medizinische Versorgung der sowjetischen Gefangenen
Ich beschränke mich hier auf sowjetische Gefangene, weil ihre Versorgung sich erheblich von derjenigen aller anderen Gefangenen im Lager unterschied. Wie erwähnt, empfingen diese gelegentlich Pakete, in denen bisweilen auch Medikamente enthalten waren. Solche Pakete bekamen wir nicht. Deshalb standen fast keine Medikamtente für die Behandlung zur Verfügung. Es gab Holzbaracken, in denen Gefangene mit Lungenentzündung und Tbc behandelt wurden. Die Todesrate in diesen Baracken war besonders hoch. Die sowjetischen Gefangenen wurden von sowjetischen Ärzten und Sanitätern gepflegt. Ich erinnere mich, daß bis zu 10 sowjetische Ärz te im Lager tätig waren. Sie wurden in ihrer Arbeit auch von deutschen Sanitätsoffizieren und Sanitätern unterstützt.
Das „Lazarett" des Lagers nach der Befreiung, 28.4.1945 (Privatarchiv Joseph D. Karr, Rochester Hills, USA)
Wegen Ansteckungsgefahr wurden die Tbc-Baracken nie von deutschem Lagerpersonal betreten. Der Eingang in die Tbc-Abteilung war mit einem Vorhängeschloß gesichert, dessen Schlüssel im Besitz des sowjetischen Sanitätspersonals war. Von ihm wurden auch die befohlenen Zählappelle durchgeführt. Zur Aufbesserung der Verpflegung ließ das Personal verstorbene Gefangene eine gewisse Zeit mit den Lebenden zusammen im Revier liegen. So konnten Brotrationen für die bereits Verstorbenen mitbezogen und auf andere Patienten verteilt werden. Für den Abtransport der Leichen war das Sanitätspersonal ebenfalls verantwortlich. Er erfolgte mit einer Holzkarre, die ein Pferd zog. Auf diese Karre wurden dann auch die Leichen der Verstorbenen aus der Krankenbaracke dazugelegt....
Tagesablauf
Um 6 Uhr wurde geweckt, anschließend war Zählappell. Dieser erfolgte manchmal in der Unterkunft und manchmal im Freien. Wenn die Zahlen nicht stimmten, mußten wir manchmal stundenlang stehen, bis sie stimmten.
Zählappelle erfolgten zweimal täglich, morgens und abends. Nachdem das eingenommen worden war, was sich `Frühstück´ nannte, marschierten die Arbeitskolonnen ab, die außerhalb des Lagers eingesetzt wurden. Die zum Lagerpersonal gehörenden Gefangenen blieben zurück und gingen an ihre Arbeit. Um 13 Uhr war 1 Stunde Mittagspause. Während dieser Zeit wurde ein Teller warme Suppe ausgegeben, die aus Steckrüben und Kartoffeln bestand. In den Mittagspausen wurde täglich Musik von Schallplatten durch den Lagerfunk übertragen.
Es waren immer dieselben Platten mit Melodien aus Lehars Operette `Die lustige Witwe´.
Das Stammpersonal arbeitete bis 18 Uhr, dann war Zählappell und danach Ausgabe der Kaltverpflegung. Bis zum Schlafengehen war Freizeit, die in den abgeschlossenen Unterkünften verbracht werden mußte. Bis zum `Licht aus!´wurde in den Fluren und Treppenhäusern die Zeit zum Tauschen genutzt. Ich kann mich erinnern, daß ich dabei u.a. ein kleines deutsch-russisches Wörterbuch gegen 2 Zigaretten erwarb, die mir ein deutscher Handwerker geschenkt hatte. Um 22 Uhr wurde das Licht ausgeschaltet. Dann wurde das Dunkel im Lager nur gelegentlich von Scheinwerfern erhellt, deren Kegel über die Wachen auf den Türmen und vor allem über den Zaun huschten.

Über die Beziehungen zu unseren deutschen Bewachern

Der Lagerkommandant war selten im Lager zu sehen. Er tauchte nur auf, wenn Vorgesetzte das Lager besichtigten oder Kommissionen vom Roten Kreuz o.ä. sich angemeldet hatten. Deutsche Ärzte waren öfter im Lager zu sehen. Allgemein muß gesagt werden, daß der Kontakt zwischen uns und unseren Bewachern durch den Kriegsverlauf bestimmt wurde. Je näher das Kriegsende und die Niederlage Hitlerdeutschlands heranrückten, desto besser wurden unsere Kontakte.
Einige Angehörige des Lagerpersonals waren sehr brutal. Sie haben Gefangene mit Ochsenziemern und Stöcken geschlagen. Einzelne Gefangene versuchten natürlich, durch den Einsatz besonderer Talente ihre Lage als Gefangene zu verbessern. Wir hatten z.B. zwei Gefangene im Lager, die gut malen konnten. Besonders engen Kontakt hatte ich zu Unteroffizier Bude, dem Stellvertreter des Luftschutzoffiziers Hauptmann Edmund Weller. Unteroffizier Bude war schon älter und wegen einer Fußkrankheit offenbar nur für den Dienst in der Heimat verwendungsfähig. Anfang 44 wurde er dennoch zur Partisanenbekämpfung an die Front geschickt. Dort verlor er ein Bein. Als er wieder in der Heimat war, ließ er es sich nicht nehmen, mich, einen ‘Russen’, im Lager zu besuchen.

Hauptmann Weller: unter Feinden ein Mensch

Hauptmann Weller trug im Lager den Spitznamen Professor. Es war der Luftschutzoffizier des Lagers. Im Juni 1943 wurde ich eines Tages von ihm aufgefordert, Löschwasserbehälter zu reinigen und Sandtüten aufzufüllen. Ich schien diese Arbeit zu seiner Zufriedenheit erledigt zu haben, denn er forderte mich ein zweites Mal an. Von da an blieb ich zu seiner persönlichen Verfügung bei ihm, so daß meine Kameraden mich bald ‘Schatten von Hauptmann Weller’ nannten. Nachdem ich ein halbes Jahr für ihn gearbeitet hatte, erhielt ich einen Ausweis, mit dem ich mich im Lager frei bewegen konnte und Zutritt auch zu jenen Blocks hatte, die mit Stacheldraht umgeben waren. Hauptmann Weller hatte bereits den 1. Weltkrieg als Offizier mitgemacht. Er war Lehrer von Beruf und stammte aus Essen. Er war gebildet und sprach fließend Englisch und Französisch.
Im Laufe der Zeit verbesserte sich unser Verhältnis immer mehr. Er faßte Vertrauen zu mir und gab mir stets Nachrichten über die Lage an den Fronten weiter. Für meine Kameraden und mich waren diese Informationen von größter Wichtigkeit, da wir vollständig von der Außenwelt abgeschirmt wurden. Es war verboten, Zeitungen, selbst deutsche, zu lesen. Der Besitz russischer Bücher war ebenfalls untersagt. Als Luftschutzoffizier wohnte er in der Kommandantur, weil er stets im Lager verfügbar sein mußte. An seiner Zimmerwand hing eine Landkarte, die er unter einem Vorhang versteckte. Auf dieser pflegte er den neuesten Frontverlauf festzuhalten. Gelegentlich zeigte er mir diese Karte.
Als die Alliierten in Frankreich gelandet waren, berichtete er mir sofort davon.
Im Gespräch mit mir äußerte er auch sein Bedauern über das mißlungene Attentat auf Hitler am 20. Juli. Die Einführung des Hitlergrußes in der Wehrmacht bezeichnete er als Anfang vom Ende des Krieges. Nun begann er, mir den Frontverlauf häufiger an seiner Karte zu erläutern. Zu dieser Zeit standen die sowjetischen Truppen bereits in Polen, die Westalliierten in Holland und Belgien.
Die Ardennenschlacht betrachtete er als letzten vergeblichen Versuch Hitlerdeutschlands, wieder in die Offensive zu kommen.`Die Nazis´ - mir gegenüber gebrauchte er stets dieses Wort - `denken nur an ihr Überleben und wollen dafür das deutsche Volk opfern´, sagte er zu mir.
Als das Kriegsende immer näher rückte, gab er mir Hinweise, wie ich am besten mein Leben retten könnte, falls es brenzlig würde. Er riet mir von einem Fluchtversuch ab und empfahl mir, mich stets in der vertrauten Umgebung des Lagers aufzuhalten, wo ich ja alle Verstecke kannte. Als gegen Kriegsende immer mehr Gefangene in das Lager gepfercht wurden, erläuterte er mir diese Maßnahme und wies darauf hin, daß man so die Gefangenen am einfachsten vernichten könne.

Wahrheit war Quelle für Kraft und Lebensmut

An einem Beispiel habe ich schon zu erläutern versucht, welche Bedeutung für den Lebenswillen und die Moral meiner Kameraden es hatte, daß wir über den Verlauf des Krieges wahrheitsgemäß informiert wurden.Hierbei spielte der Kontakt zu Hauptmann Weller eine große Rolle“.